Das Schiff verließ den Hafen an einem sonnigen Tag. An Bord befanden sich 937 Flüchtlinge. Alle Passagiere besaßen keine regulären Visa und mussten überdurchschnittlich für die Fahrt bezahlen.
Unter den Passagieren waren auch 12 Mitglieder einer Großfamilie. Es waren 11 Verwandte des Familienhaupts – seine Mutter und seine Schwester, seine Großeltern väterlicherseits, seine Großeltern mütterlicherseits, seine Tante, seine Cousine und sein Cousin sowie sein Großonkel mit dessen Ehefrau.
Am 27. Mai ging das Schiff im Hafen vor Anker. Die Flüchtlinge zählten die Stunden, bis sie endlich in Sicherheit sein würden. Doch die Regierung des Gastlandes entschied, dass alle Personen, die kein gültiges Visum haben, an Bord bleiben und die Gewässer des Staates unverzüglich verlassen müssen. Zur Begründung hat man die illegale Einreise angegeben.
Das Schiff kreuzte zu einem anderen Hafen im Nachbarland. Dort waren die Menschen wieder nicht gewünscht: Die Regierung war nicht bereit das bewilligte Einwandererkontingent zu erweitern, aus Angst, dass einerseits die einheimische Bevölkerung dies nicht akzeptieren würde und dass andererseits aufgrund dieses Falls weitere Flüchtlingsströme ins Land kommen würden. Im April dieses Jahres – also nur einen Monat zuvor – veröffentlichte die im Land bekannte Zeitschrift eine Umfrage, die besagte, dass 83 % der Bürger gegen die Lockerung von Einwanderungsbeschränkungen seien.
Das Schiff musste andere Fluchtziele suchen und nach langen Verhandlungen wurden die Passagiere doch von vier Ländern – Großbritannien, Frankreich, Belgien und die Niederlande – anteilig empfangen.
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Sie haben wahrscheinlich bereits erkannt, um welches Schiff und welche Flüchtlinge es ging: Das Schiff hieß „St. Louis“. Es sollte 937 nach dem Novemberpogromm 1938 aus Nazi-Deutschland geflüchtete Juden in Sicherheit nach Amerika bringen. Von diesen 937 Passagieren wurden später 254 in Ausschwitz, Sobibor und anderen KZ ermordet, nachdem Frankreich, Belgien und die Niederlande ebenfalls von den Nazis besetzt wurden. So auch der größte Teil der genannten Familie.
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Wenn ein Mensch von Krieg und Gewalt, Rassismus und religiösem Hass bedroht wird, versucht er das Leben seiner Familie zu retten. Meistens gibt es in solchen Situationen nur noch eine Möglichkeit zu überleben: die Flucht. Die Flucht zu jedem Preis, egal wie und egal wohin. Nur um das Leben zu retten. Diese Entscheidung, das Heimatland, die gewöhnliche Umgebung zu verlassen und mit den Kindern in eine unbekannte und fremde Welt zu fliehen, ist eine schwere Entscheidung. Es ist kein Spaß, mit Schleppern zu verhandeln, mit ungewissem Ergebnis das Meer zu überqueren und später in einem fernen Land als ungewünschter Gast empfangen zu werden. Und wenn Menschen es trotzdem tun, gibt es für sie keine andere Wahl.
Die Welt ist seit 1939 humaner geworden: Heute gibt es im zivilisierten Westen keine 83 % Stimmen gegen die Aufnahme von vor Krieg und Gewalt geflüchteten Menschen. Keine 83 %, aber trotzdem sehr viele. Zu viele… Sehr viele Bürger haben kein Vertrauen. Nicht alle, die kein Vertrauen haben, sind automatisch fremdenfeindlich. Sie haben Angst. Angst, dass Arbeitsplätze wegfallen. Angst, dass die hierzulande herrschende demokratische Rechtsordnung und die hiesigen Werte von den Geflüchteten nicht angenommen oder sogar missbraucht werden. Angst, dass das Sozialsystem mit dem aufkommenden Druck überfordert wird. Ja, es gibt auch eine fremdenfeindliche Minderheit, die diese natürlichen menschlichen Ängste künstlich schürt und damit rechtspopulistische und extremistische Propaganda verbreitet. Die ewig Gestrigen – egal ob Rechts- oder Linksextremisten – machen aus diesen Ängsten politisches Kapital. Dieses Kapital kann bei der nächsten Landeswahl zu unangenehmen Ergebnissen führen. Wir hatten bereits einmal solche Wahlen im Jahr 1933…
Die Aufgabe, die schwierigen Fragen zu beantworten und diese unangenehmen Konsequenzen vorzubeugen, obliegt der Politik. An alle – ohne Ausnahme – Parteien, die heute im Landtag vertreten sind. Wenn die eine oder andere Partei denkt, dass sie diese Situation für die Schwächung seiner politischen Gegner nutzen kann und damit ein politisches Süppchen kocht, riskiert sie, dass dieses Süppchen später stinken wird!
Dabei gab es immer und gibt es auch jetzt einfache Menschen, die außerhalb der Politik für gute Taten sorgen. Wie in einem kleinen Dorf in Frankreich, Chambon-sur-Lignon, wo alle Einwohner unter Führung des Dorfpfarrers André Trocmé die Juden von der Verschleppung in die KZ versteckt haben. In der Gegend von Chambon-sur-Lignon wurden 3000 bis 5000 Juden durch das Engagement ihrer Bewohner vor dem sicheren Tod in den Lagern gerettet. Es war mehr als die Einwohnerzahl dieses Dorfes!
Die Hoffnung auf solche Menschen ist für uns die Quelle des Optimismus. Wir Juden waren immer Optimisten. Historisch gesehen gab es für uns keine andere Möglichkeit zu überleben. Als die Nazis an die Macht kamen und schrittweise neue antijüdische Gesetze und Handlungen einführten, sagten wir „Das kann man doch noch vertragen“. Bis es für 6 Millionen zu spät war.
Wir bleiben auch jetzt – trotz allem – Optimisten. Trotz der schon zur Normalität gewordenen anti-israelischen Hetze, die ganz offensichtlich Antisemitismus pur ist – sowohl vor dem Bundeskanzleramt oder dem Kölner Dom als auch auf dem Marktplatz hier in Halle.
„Kauft nicht bei Juden!“, forderte im Jahre 1921 der evangelische Pfarrer Friedrich Wilhelm Auer aus der bayerischen Landeskirche. „Kauft nicht bei Juden!“, schrieb das überregionale evangelische Wochenblatt Licht und Leben im Jahr 1927. Man wundert sich daher nicht, dass auch „Der Stürmer“ nach 1933 das gleiche schrieb und dass am 1. April 1933 der Boykott jüdischer Geschäfte, Warenhäuser, Banken, Arztpraxen, Rechtsanwalts- und Notarkanzleien eingeführt wurde.
Auch jetzt in der Gegenwart hören wir dieselbe Forderung, diesmal in der Form „Kauft nicht vom jüdischen Staat!“ Von der katholischen PAX Christi bis zum deutschen BDS-Ableger. Wenn jemand meint, dass die Aufrufe in den 20er und 30er Jahren des letzten Jahrhunderts und heutige Aufrufe sich unterscheiden, der irrt sich: Beide haben den gleichen Kern: Judenhass.
Bundesinnenminister Thomas de Maizière warnt vor pauschalierten Urteilen über Flüchtlinge, die Deutschland derzeit aufnimmt: „Viele der Menschen, die jetzt zu uns kommen, sind vor barbarischen Terroristen geflohen und suchen ein friedliches, ein besseres Leben bei uns in Europa“, sagt de Maizière. „Allerdings sei Antisemitismus und Israelhass in Deutschland nicht mehr nur im rechtsextremistischen Lager zu finden. In Deutschland gebe es ‚rote Linien‘, die für ein gutes Zusammenleben nicht überschritten werden dürfen“, sagt der Bundesinnenminister weiter. „Jeder, der zu uns kommt, muss wissen, in welches Land er kommt: ein Land, das den Juden und dem Staat Israel in ganz besonderer Weise verbunden ist, ein Land, in dem es aus gutem Grund Teil der Staatsräson ist, das Judentum zu schützen und seine freie Entfaltung zu fördern – ein Land, in dem nie wieder Juden in Angst vor Verfolgung leben sollen. Dies werde sich auch nicht ändern“, so de Maizière. „Wer dies nicht so sieht, ist hier fehl am Platze. Dies zu vermitteln, ist eine unserer dringendsten Aufgaben.“
Viele Juden in Deutschland befürchten durch die starke Zuwanderung von Flüchtlingen aus dem Nahen Osten eine Erstarkung des Antisemitismus in der Gesellschaft. In vielen der Herkunftsländer, wie Syrien oder dem Irak, gehören die Vernichtung Israels und der Hass auf Juden seit Jahrzehnten zur Staatsdoktrin und werden in dem Ausbildungssystem propagiert. Diese Sorge wird von der Politik nicht immer ernstgenommen.
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Wir bleiben jedenfalls Optimisten und möchten daran glauben, dass die Zukunft der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland, in Sachsen-Anhalt und speziell hier in Halle gesichert bleibt und dass die schrecklichen Tage vor 77 Jahren endgültig der Vergangenheit angehören.
Dafür sollte der demokratische Rechtstaat Bundesrepublik Deutschland weiterhin das Kernland der Europäischen Union bleiben. G-tt behüte ihn von allen Alternativen – weder rechtsradikalen noch religiös-fanatischen!