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Interview in der Mitteldeutschen Zeitung (ungekürzte Fassung)

Am 21. Mai 2018 veröffentlichte die MZ ein Interview mit dem Vorsitzenden des Landesverbandes Jüdischer Gemeinden, Max Privorozki. Der Interviewtext in der Zeitung war teilweise verkürzt. Lesen Sie hier den gesamten Gesprächsverlauf:

1. Tragen Sie in der Öffentlichkeit, außerhalb der Synagoge oder von jüdischen Feiertagen, eine Kippa?

Nein. Es gibt keine Verpflichtung (religiöse oder auch aus anderen Gründen) für einen jüdischen Mann eine Kippa zu tragen. Man trägt die Kippa oder eine andere Kopfbedeckung in der Synagoge, auf dem jüdischen Friedhof oder während eines Gebets, unabhängig von dem Raum. Die streng religiösen Juden tragen stets eine Kopfbedeckung, da sie sehr oft beten und demzufolge sehr oft eine Kopfbedeckung benötigen.

2. Wenn nein, warum nicht? Wenn ja, wie sind die Reaktionen der Öffentlichkeit darauf?

Siehe Antwort 1. Ich trage allerdings immer eine Kippa oder eine andere Kopfbedeckung, auch in der Öffentlichkeit, wenn ich einen religiösen Menschen begleite.

Ich habe bis jetzt keine Reaktionen bemerkt. Allerdings, siehe oben, trage ich selten eine Kippa.

3. Tragen die Mitglieder Ihrer Gemeinde jüdische Symbole (Kippa, Davidstern o.ä.) in der Öffentlichkeit?

Wir haben einige Mitglieder, die ständig eine Kopfbedeckung tragen. Sie vermeiden allerdings das Tragen einer Kippa. In Israel hingegen tragen sie eine Kippa.

4. Sind Sie oder die Mitglieder Ihrer Gemeinde schon einmal persönlich Opfer von antisemitischen Anfeindungen geworden?

Ja. Sowohl ich als auch einige andere Mitglieder. Ich stand einmal draußen neben dem Synagogengrundstück an der geöffneten Tür und wurde von dem Fahrer eines vorbeifahrenden Autos als „Kindermörder“ beschimpft. Ich trug eine Kippa.

5. Ich vermute, dass die Jüdische Gemeinde bereits des Öfteren mit Antisemitismus konfrontiert wurde. Ist das so? In welcher Form? Können Sie ein Beispiel nennen?

Es ist so. Allerdings kann der Begriff „des Öfteren“ unterschiedlich ausgelegt werden. Neben dem zuvor genannten Fall mit Beschimpfungen und dem versuchten tätlichen Angriff auf ein jüdisches Kind mit Kippa am Platz Am Steintor gab es auch andere Beispiele. Zum Beispiel als ein junger Mann in einer Bar an der Theke mit einer jungen Angestellten sprach und sich wegen ihres Akzents erkundigte, aus welchem Land sie sei. Als sie antwortete „Aus der Ukraine“, war er verwundert, da es in der Ukraine keine Spätaussiedler gibt. Die Frau sagte, dass sie keine Spätaussiedlerin sei, sondern eine Jüdin, und dass es ein Zuwanderungsprogramm für Juden aus den GUS-Staaten gäbe. Der junge Mann stellte, ohne ein einziges weiteres Wort zu sagen, seine Kaffeetasse ab und verließ das Lokal.

6. Haben antisemitische Anfeindungen nach Ihrer Erfahrung in Halle zugenommen? Wenn ja, warum nach Ihrer Meinung?

Ich kenne nur die offizielle Statistik. Vielmehr kann man sagen, dass die Qualität anders geworden ist: Sich offen als Antisemit zu zeigen ist nicht mehr „peinlich“. Die „berechtigte“ Kritik des Staates Israel ist zum sicheren Alibi geworden, sich von den Vorwürfen rein zu waschen. Ich sehe hier eine Verbindung zu der Tatsache, dass die Generation der Holocaust-Überlebenden, aber auch der Täter, immer weniger vertreten ist. Die Nachkommen sehen sich immer weniger mit den schrecklichen Ereignissen vor 75 bis 85 Jahren verbunden. Sie wissen, dass sie keine Schuld tragen. Dass sie, ohne Schuld zu tragen, jedoch eine enorme historische Verantwortung haben, verstehen nur wenige. Nach meiner Meinung ist dies die Quelle sowohl für den rechten (mit den Verschwörungstheorien etc.) als auch für den linken Antisemitismus.

Eine weitere Quelle für den relativ neuen Antisemitismus in Halle/Deutschland ist die Zuwanderung aus Staaten, in denen Antisemitismus seit mehreren Jahrzenten ein wesentlicher Teil der Kindererziehung ist.

7. Sind Angriffe, auch verbal natürlich, eher gegen Juden im Allgemeinen oder gegen Israel im Besonderen gerichtet? Oder vermischt sich das?

Eigentlich habe ich diese Frage bereits teilweise beantwortet. Israel wird, nicht nur in Deutschland, besonders oft dämonisiert, verurteilt und mit doppelten Standards gemessen. Es gibt sehr wenige Staaten, für die es in der deutschen Sprache ein spezielles „XXX-Hass“-Wort gibt. Hat man etwas über Frankreichhass, Kolumbienhass oder Namibiahass gehört? Über das Wort Israelhass sehr wohl. Man kann nicht sagen, dass der gegenwärtige Antisemitismus nur aus dem Israelhass besteht, aber der Israelhass spielt eine sehr große Rolle. Die andere Ausrichtung ist nie verschwunden und es gibt in den letzten Jahren, zumindest wie ich es sehe, wieder eine steigende Vorliebe zu Verschwörungstheorien, egal, ob in Bezug auf die Terroranschläge vom 11. September oder auf die Sanktionen gegen Russland; man hört zum Beispiel bei Montagsdemos Stimmen, die in diese Richtung gehen.

8. Glauben Sie, dass in vielen Deutschen immer noch ein latenter Antisemitismus vorhanden ist?

Ja. Es ist allerdings nicht nur ein deutsches Problem.

9. Worauf führen Sie antisemitische Tendenzen zurück, unabhängig von der Nahost-Problematik? Welche Rolle spielen heute die christlichen Kirchen diesbezüglich?

Es ist eine sehr komplizierte und wichtige Frage. Die christlichen Kirchen lieferten über Jahrhunderte eine „theologische Begründung“ und manchmal auch die logistische Unterstützung für die Judenverfolgung. Ein offenes Schuldbekenntnis in der Gegenwart bleibt jedoch ganz selten. Deswegen ist für uns die Position der christlichen TOS-Gemeinde wirklich so wichtig.

Auch jetzt ist die Position einiger Kirchen für mich kaum nachvollziehbar. Die Unterstützung der antisemitischen BDS-Bewegung ist ein Beispiel. Oder auch die Kritik an den israelischen Sicherheitsvorkehrungen in der Altstadt Jerusalems. Hier haben die Kirchenvertreter wahrscheinlich vergessen, dass, eben weil Jerusalem eine israelische Stadt ist, dort alle christlichen Gemeinden sicher existieren können. Im Gegensatz zu allen Nachbarländern, einschließlich der palästinensischen Autonomiegebiete.

10. Bedarf es bei Veranstaltungen Ihrer Gemeinde bzw. bei Veranstaltungen zu jüdischen Themen besonderer Sicherheitsvorkehrungen?

Diese Frage sollte man nicht an uns, sondern an die dafür zuständigen Behörden richten. Wir haben in den letzten Jahren auf jeden Fall unsere eigenen Sicherheitsvorkehrungen erhöht – und werden diese wahrscheinlich noch steigern.

11. Was muss die Gesellschaft tun, damit sich Antisemitismus nicht weiter ausbreitet?

Ganz schwierige Frage: Weiß das jemand? Es gibt einen Maßnahmenkatalog, aber ob er ausreichend ist?

Eine konsequentere Anwendung der existierenden Gesetze: Solche Fälle, wie Urteile beim Anschlag gegen die Synagoge in Wuppertal oder im Fall der Weigerung der Beförderung eines israelischen Fluggastes, bringen sehr große Unsicherheit und vernichten den Glauben an einen effektiven Schutz durch den Staat.

Die islamischen Gemeinden müssen mehr gegen Antisemitismus und insbesondere gegen den Israelhass und den Terror unternehmen.

Man sollte aufhören, Antisemitismus verbal zu verurteilen und ihn gleichzeitig weiter finanziell, auf Kosten der Steuerzahler, zu unterstützen. Dies zerstört noch mehr das Vertrauen in Aussagen bezüglich der besonderen Beziehungen zu Israel oder der besonderen Verantwortung für die Vergangenheit.

Eine umfassende pädagogische Arbeit: In Schulen, Integrations- und Sprachkursen für Zuwanderer, in den berufsbildenden und kulturellen Einrichtungen sollte effektive Präventions- und Aufklärungsarbeit geleistet werden.