Zum Inhalt springen

Interview mit Max Privorozki im LAMSA-Newsletter Nr. 22/2019-01

Lieber Herr Privorozki, welche Rolle spielt das Thema Antisemitismus aus Ihrer Sicht im europäischen Wahlkampf?

Bei den Europa- und Kommunalwahlen in Sachsen-Anhalt am 26. Mai 2019 sind nur manche Migrant*innen wahlberechtigt, aber alle sind von den Wahlergebnissen betroffen. Auf Grund der aktuell zahlreichen Berichte über wachsenden Antisemitismus haben wir Herrn Max Privorozki drei Fragen zum Thema gestellt. Er ist nicht nur Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde zu Halle (Saale), sondern auch Vorstandsmitglied des Landesverbandes Jüdischer Gemeinden Sachsen-Anhalt, von denen einige Mitglied des LAMSA sind.

Ich erwarte in keiner Weise, dass das Erstarken des Antisemitismus in mehreren europäischen Ländern eine wichtige Rolle im Wahlkampf spielen wird. Ohne Zweifel werden die Kandidaten betonen, dass dieses Übel unerträglich sei und die Gesellschaft etwas unternehmen müsse. Ein Konzept für eine greifbare Lösung hat dagegen keine politische Kraft und wird daher auch nicht präsentiert werden. Die Rechten werden den Antisemitismus bei den Linken und die Linken bei den Rechten anprangern. Niemand wird jedoch auf die Idee kommen, dieses Problem in den eigenen Reihen anzupacken. Dabei entwickelt sich der Antisemitismus derzeit in allen Schichten und in allen gesellschaftlichen Strukturen weiter.

Wie nehmen Sie antisemitische Anfeindungen und Straftaten in Sachsen-Anhalt wahr?

Man kann sagen, dass die Qualität anders geworden ist: Sich offen als Antisemit zu zeigen, ist nicht mehr peinlich. Zunächst ist es aber wichtig zu betonen, dass die Wahrnehmung antisemitischer Anfeindungen gegenüber Juden in unserem Bundesland nicht getrennt von der gesamten Situation betrachtet werden kann. Die Medien und das Internet kennen weder Landes- noch andere Grenzen. Demzufolge reagieren wir auf bestimmte Ereignisse genauso wie Juden aus Berlin, Bayern, Hessen oder Spanien, Ungarn oder der Ukraine.

Israel wird, nicht nur in Deutschland, oft dämonisiert, verurteilt und mit doppelten Standards gemessen. Die Kritik des Staates Israel wird zum Alibi. Als beispielsweise Israel im Jahr 2018 von den Vereinten Nationen 21 Mal, alle anderen Staaten, einschließlich Iran, Syrien und Nordkorea, hingegen „nur“ 6 Mal verurteilt wurden, hatte die Bundesrepublik in 16 Fällen dieser 21 Verurteilungen gegen Israel gestimmt und ihre Stimme in den restlichen 5 Fällen enthalten.

Welche Hoffnungen und Befürchtungen verbinden Sie mit der Europawahl, möglichen Ergebnissen und Entwicklungen nach der Wahl?

Konkret wünschen wir uns ein durchdachtes Konzept zur Bekämpfung von antisemitischen Tendenzen, insbesondere auch bei Zugewanderten aus Ländern mit einer aggressiven antijüdischen Staatspolitik, wie Syrien oder Afghanistan.

Und grundsätzlich das Bewusstsein dafür, dass die jüdische Gemeinschaft ein Bestandteil der Gesamtgesellschaft ist, und demzufolge auch ein Bewusstsein, dass der Antisemitismus auf keinen Fall nur das Problem der jüdischen Gemeinschaft, sondern der Allgemeinheit ist und bleibt.

Wir hoffen in jedem Fall – und das hat nichts mit der Entwicklung antisemitischer Tendenzen zu tun – dass die Kräfte, die für ein starkes Europa als Vereinigung unabhängiger und souveräner Demokratiestaaten stehen, die solche Werte wie Toleranz, Freiheit und Gerechtigkeit nicht nur auf dem Papier schätzen, die Mehrheit im EU-Parlament stellen werden. Optimismus gehört zur Natur des jüdischen Volkes. Denn ohne Optimismus können alle Pogrome, und insbesondere die Schoa, nicht überstanden werden. Wir bleiben optimistisch und hoffen, dass kein weiteres Land nach Großbritannien die EU verlassen wird, sondern dass neue Länder, wie Serbien, Montenegro und die Ukraine, aufgenommen werden.

Vielen Dank für das Interview