Am 9. November 1918 wurde die Weimarer Republik, die erste parlamentarische Demokratie auf dem deutschen Boden ausgerufen. Aus dem Deutschen Reich wurde de facto eine föderative Republik mit Reichspräsidenten und Reichkanzlern. Diese Republik existierte jedoch nicht sehr lange: Schon im September 1930 erhielt, z.B. in heutiger Landeshauptstadt Magdeburg, die NSDAP fast 20 %, im Juli 1932 44 % und im März 1933 47 % der Stimmen bei den Reichstagswahlen. Damit war diese erste parlamentarische deutsche Demokratie bereits nach 15 Jahren zu Ende.
Im März 1933 begann das, was ein gegenwärtiger Fraktionsvorsitzende einer Partei im Bundestag als „Vogelschiss der deutschen Geschichte“ bezeichnete. Genau 20 Jahren nach der Geburt der Weimarer Republik entwickelte sich dieser „Vogelschiss“ zu einem der schlimmsten jüdischen Pogrome in der deutschen Geschichte. Dieser Pogrom hat den Weg zur Massenvernichtung von Juden in Europa eröffnet – zum Holocaust.
Möglicherweise kann jemand diese Ereignisse, gemessen am Zeitraum, als „Vogelschiss der Geschichte“ im Vergleich zur allgemeinen deutschen Geschichte sehen. Für uns Juden war dieser „Vogelschiss“ jedoch zu brutal und bedeutete zu viel. Jede jüdische Familie, nicht nur in Deutschland, beklagte Opfer dieses Massenmordes. Deswegen möchten wir heute – am 100. Jahrestag der Weimarer Republik und am 80. Jahrestag des Novemberpogroms – denjenigen, die das letztere Ereignis verharmlosen, sagen: Einen Vogelschiss kann man bereinigen und die Oberfläche wieder sauber machen. Den Holocaust zu bereinigen ist nicht möglich. Wer es jedoch versucht, gefährdet die gegenwärtige deutsche Demokratie und erhöht die Gefahr, dass ihr dasselbe Schicksal widerfährt, wie damals der Weimarer Republik. Das dürfen die demokratischen Kräfte, egal ob vom rechten oder linken politischen Spektrum, nicht zulassen!
Und wir glauben an die Widerstandsfähigkeit der gegenwärtigen Gesellschaft: Sie wird es nicht zulassen! Diese Widerstandsfähigkeit sollte sich nicht nur bei der Exekutive, der Legislative und der Judikative entfalten. Diese Widerstandsfähigkeit ist wesentlich wichtiger in der Gesellschaft insgesamt: so zu sagen vor Ort, in den Städten und Kommunen, in den Kulturstätten, in den Stadien, in den Schulen und in den Universitäten. Einfach überall dort, wo sie in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts nicht präsent war. Auch in den Museen, wie hier in Gröbzig.Wir sind sehr froh, dass sich die Zusammenarbeit zwischen der jüdischen Gemeinschaft und der neuen Museumsleitung auf einem guten Weg befindet – ganz im Sinne des Staatsvertrages zwischen dem Land und der jüdischen Gemeinschaft Sachsen-Anhalts!